02 Oktober 2008

Zeit

Manchmal nehme ich mir einen Zeitraum. Das ist eine Pause im Alltag ganz für mich. Um ruhig zu werden, zu entspannen und das zu tun, was ich immer wieder spannend finde. Die Zeit beobachten. Raum für Zeit. Zeitraum für mich.

Ich setze mich bewusst an den Rand und schaue den Menschen zu, wie sie sich durch die Zeit bewegen. Alles scheint im doppelt schnellen Tempo zu passieren und oft habe ich den Eindruck, die Zeit bewegt sich immer falsch. Es gibt Augenblicke, die rasen und alles überstürzt sich und es sind oft Minuten, die schleichen und man wünscht sich, sie würden schneller verstreichen. Turbominuten und Schleichaugenblicke. Das habe ich mir schon desöfteren gewünscht. Eine Turbominute auf dem Zahnarztstuhl und beim Liebesgeständnis einen Schleichaugenblick bitte. Aber es ist nicht so. Es ist immer gleich.

Jede Minute hat genau 60 Sekunden, jeder Tag 24 Stunden und das Jahr 365 Tage. Es ist immer der gleiche Ablauf, außer im Schaltjahr und doch jammern wir immer darüber, dass wir zu wenig Zeit haben.
Ich sehe mir die Menschen an, wie sie hektisch und panisch über die Straßen hasten, sich halb vergessen und gerade so davonkommen, weil sie ja so eingespannt sind. Sie scheinen gierig nach übrigen Minuten zu schnappen wie Fische auf dem Trockenen und finden sie nicht. Blass und entnervt wirken sie. Sie sind erschöpft und reif für einen Zeitraum, eine Pause. Doch sie nehmen sich ihn nicht. Sie müssen etwas tun. Immer in Bewegung bleiben. Dransein und nie in den Stillstand fallen. Stillstand ist ja Rückschritt, heißt es. Aber ist es das wirklich?
Ist Stillstand, also das Verharren für einen Moment nicht wesentlich effektiver?

Das stille Nachdenken fördert klare Lösungen, ruhige Gedanken, Besonnenheit. Dinge, die wichtig sind, um gut zu entscheiden. Oder nicht?
Pünktlichkeit ist wichtig, heißt es. Deadlines muss man einhalten. Sonst? Sonst ist man dead an der Line? Oder ist man dann einfach der Überzieher, der trotzdem noch rechtzeitig kommt, weil er sich die Zeit nahm, ein wenig sorgfältiger, besonnener, ja, vielleicht sogar besser zu sein, als der Rest, der hastig seine Sachen zusammenbastelte, weil wieder einmal die Zeit fehlte? Fehlte die Zeit, oder war es zu viel?

Über Zeit redet der Mensch, als gäbe es sie pfundweise zu kaufen. Dabei wurde sie uns geschenkt. Vom Leben. Kaufen kann man Zeit nicht. Es ist nicht das Haben der Zeit, es ist das Nehmen. Wir nehmen uns zu wenig Zeit für uns und unsere Bedürfnisse. Wir sind zu wenig intim mit uns selbst, hören uns nicht mehr, weil wir keine Zeit für uns zu haben scheinen. Offensichtlich kennen wir uns selbst nicht mehr. Der Druck auf unsere Geister und Seelen ist manchmal übermächtig und wir könnten eigentlich nur noch schreien.
Ein Schrei nach Zeit ist der Schrei nach Ruhe. Das Sehnen danach wird so groß, dass es schmerzt, uns krank macht und doch gönnen wir sie uns nicht. Weil wir angeblich nicht können. Uns zu vieler Dinge annehmen.

Wir verschwenden Zeit, schenken Dingen oft nur einen flüchtigen Blick, obwohl sie das Hinschauen verdient hätten. Es scheint, als würde die Menschheit vergessen, sich umzuschauen, anstatt nur hinter etwas her zu laufen, das zeitraubend einspannt, einsperrt und anderes nicht zulässt. Stunden werden gefüllt mit Dingen, die viel schneller zu erledigen wären, würden wir genau hinsehen.

Quetschen Minuten zwischen Sekunden, nur um noch etwas zu tun und noch etwas zu erledigen. Was haben wir davon? Außer vielleicht ausgebrannt und erschöpft in einer Ecke zu liegen und mit letzter Kraft über die Ziellinie zu kriechen, um dann zusammenzuklappen und an einer neuen, kommenden Volkskrankheit wie das „Burn-out-Syndrom“ oder „Tinitus“ zu leiden und sich die Zeit zwangsweise nehmen zu müssen, weil es nicht mehr geht?

Was wäre, würden wir uns Zeit nehmen? Bewusst. Für uns. Etwas liegen lassen, anstatt es zu 100% zu erledigen. Einfach den Versuch zu wagen und herauszufinden, was passiert, wenn etwas nur 90%ig ist? Es laufen lassen, andere beim Wort zu nehmen und zu vertrauen?Es würde gar nichts passieren. Es wäre trotz allem gut so. Und es wäre Zeit. Für etwas, das nur uns gut tut. Prophylaxe sozusagen. Braucht es dafür erst ein ärztliches Rezept? Eine Verordnung?

"Hiermit verschreibe ich meinem Patienten Zeit. Für sich. Denn er ist erschöpft und benötigt die Ruhe, um wieder erholt seiner Arbeit nachgehen zu können. Ihr Hausarzt.“

Wir sollten handeln, den Umgang mit einer begrenzten Ressource überdenken.Um weniger Zeit mit Diskussionen anstatt mit klaren Ansagen, mit langwierigen Argumentationen anstatt mit schnellem Handeln zu verplempern. Kurze Wege anstatt langwieriger Prozesse, Klarheit, Vertrauen in uns und das Wissen, dass es auch anders geht. Zeit bringend, nicht zeitraubend. Es sind die kurzen Lösungen, die entschleunigen und doch keine Zeiträuber sind. Lösungen, die gut tun und die wir trotzdem nicht zu finden scheinen. Oder nicht sehen wollen?

Weil wir oft zu gern zu ausführlich sind, zu redefreudig und zu argumentativ. Weil wir dem Irrglauben verfallen sind, alles perfekt machen zu müssen und immer noch Plan B zur Hand haben. Oft suchen wir nach Haaren in der Suppe oder versuchen krampfhaft die Zügel für etwas in der Hand zu behalten, was auch selbst laufen kann. Ja, sogar soll. Eben 90% anstatt 100. Ohne den Rahmen auszureizen. Mut zur Lücke haben, um daraus Neues entstehen zu lassen, der Zeit und den Dingen Spielraum geben, um selbst nicht seelisch zu verkümmern.

Die Zeit ist vorhanden. Wir müssen sie uns nur nehmen, sollten sie aber nicht verplempern. Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass es nicht die Zeit ist, die zu wenig ist, sondern wir, die wir sie zu voll packen und offenbar oft nicht verstehen, dass Zeit das höchste Gut ist, das wir haben, denn irgendwann ist sie abgelaufen. Und dann? Nehmen Sie sich Zeit! Für sich und Ihr Leben, das aus mehr bestehen sollte als Hektik, Zeitdruck, Arbeit und Panik etwas nicht zu schaffen. Nehmen Sie sich Zeit zu leben.
Herzlichst Birgit Bauer

P.S. Das Copyright liegt wie immer bei der Autorin Birgit Bauer !