Patienten sind Menschen.
Das klingt vielleicht selbstverständlich, aber es muss leider immer wieder gesagt und auch betont werden. Ich bin oft als Expertin in Arbeitsgruppen unterwegs, wo auf sehr hohem Niveau über neue Lösungen für die Digitalisierung im Gesundheitswesen diskutiert wird.Solange ich nichts von meiner Patientenerfahrung erzähle, bin ich die Expertin, die mit allen anderen auf Augenhöhe arbeitet. Und das völlig zu Recht, ich habe viel gelernt, investiert und mich entwickelt. Keine einfache Sache und jeder, der diese Entwicklung gemacht hat, weiß das und kann es bestätigen.
Aber sobald ich erwähne, dass ich mit MS lebe, ändert sich das plötzlich. Dann bin ich nicht mehr nur die Expertin, sondern auch die Patientin – und damit scheint bei vielen unbewusst der Gedanke einzukehren: „Kann sie wirklich auf diesem hohen Niveau mithalten?“
Ja. Kann sie! Sie ist ja nicht doof. Möchte man sagen. Aber man muss das ein bisschen betrachten ...
Dieser Gedankensprung ist nicht unbedingt böse gemeint, das unterstelle ich niemandem. Aber er ist da, und das ist problematisch. Denn in dem Moment, in dem das Wort „Patient“ fällt, scheint für viele automatisch zu gelten, dass man nicht mehr die volle oft eher angedeutete geistige Leistungsfähigkeit besitzt. Doch das ist einfach falsch. Eine Diagnose wie MS nimmt mir weder meine Fähigkeiten noch meine Erfahrung. Wissen verschwindet nicht plötzlich, nur weil jemand krank ist.
Diese Art von Stigmatisierung und auch Diskriminierung basiert auf einem Irrglauben, der sich hartnäckig hält: dass Patienten nicht mehr auf hohem Niveau arbeiten können. Dabei stellen sich diese Fragen bei niemandem, solange nicht der Begriff „Patient“ im Raum steht. Ich finde, es ist unverschämt und ignorant, ohne Hintergrundwissen über das intellektuelle Niveau einer Person zu urteilen – und doch passiert genau das, wenn jemand als „Patient“ etikettiert wird.
Also, um es ganz klar zu sagen: Patienten sind Menschen. Wir haben Berufe, Ausbildungen, akademische Abschlüsse. Wir haben unser Wissen nicht verloren oder vergessen, als wir die Diagnose bekommen haben. Fähigkeiten und Wissen bleiben, sie können sich sogar noch erweitern. Aber die Vorstellung, dass Patienten nicht auf hohem Niveau mithalten können, ohne zu wissen, wen man vor sich hat – das ist inakzeptabel.
Und damit das besser funktioniert, noch ein Tipp: Experten sollten Patienten in ihrer Expertise ernst nehmen und nicht nur durch die Brille der Erkrankung betrachten. Der Fokus sollte immer auf der Fachkompetenz liegen, nicht auf der Diagnose. Offen zuzuhören, ohne voreilige Annahmen zu treffen, ist dabei entscheidend.
Denn die Patientenerfahrung ist ein Mehrwert, keine Einschränkung. Eine Zusammenarbeit funktioniert am besten, wenn gegenseitiger Respekt und der Verzicht auf Schubladendenken im Vordergrund stehen. Indem man die Stärken, Perspektiven und Erfahrungen jedes Einzelnen wertschätzt, profitieren alle Beteiligten – es wird klar, dass eine Diagnose nichts an der intellektuellen Leistung einer Person ändert.
Im Gegenteil, oft helfen Erkrankungen, Dinge besser zu verstehen oder einzuordnen. Denn natürlich ist das Leben als Mensch mit einer Erkrankung manchmal anders, nicht immer nett, aber auch manchmal bereichernd, weil es Horizonte eröffnet, die gesunde Experten so nicht erfahren werden.
Und wer weiß – vielleicht sind wir Patienten ja manchmal sogar die besseren Experten? Aber das wäre sicher nur Zufall… oder?