02 Juni 2022

Voll im Leben - Wirklich? Ein Kommentar zum Motto des Welt MS Tages ...


Wir sind: "Voll im Leben". Das war das deutsche Motto des Welt MS Tages. 

Kommunikationstechnisch betrachtet sicherlich spannend. Positiv. Motivierend. Es kommt um die Ecke, aktiv in der Sprache, voll krass aufgeladen mit sicherlich wohlmeinenden Gedanken. Ein cooler Slogan für einen besonderen Tag. 

Die Frage für mich war aber: Wie cool ist dieses Motto wirklich? 

Sind die, die mit MS leben wirklich immer voll im Leben? Wie ist "voll im Leben" definierbar oder definiert? Für mich war die Frage, ob "voll im Leben" wirklich alle einschließt wichtig. 

Eine andere Frage war, was haben sich die Verfasser so gedacht, als sie mit einigen anderen diesen Slogan begeistert entwickelt haben? Kennen diese Menschen diese Community wirklich? 

Ich habe die Reaktionen auf das Motto sehr genau verfolgt und besonders in den letzten Tagen war ich aktiv unterwegs und zum ergründen was die Meinung zum Motto ist. 

Schließt "Voll im Leben" ein oder aus? 

Es wurde schnell klar, dass viele dachten, dass das Motto nicht alle einschließt, die mit MS in Deutschland leben. Viele äußerten, dass sie sich nicht mitgenommen oder zurück gelassen fühlten. Weil sie eben nicht voll im Leben stehen oder stehen können, sondern eigentlich voll daneben sind, also neben dem Leben.

Wegen der MS, von der wir wissen, dass sie jede Menge Schwierigkeiten mit sich bringt. MS ist progressiv und viele haben extreme Schwierigkeiten damit. Andere wieder nicht. Sie leben voll das Leben. Weil sie es können. Aber eben nicht alle und hier beginnt die Limitierung. 

Kann man mit MS überhaupt voll im Leben sein? 

Als jemand, der sich mit Kommunikation beschäftigt, habe ich meine Zweifel. Wir alle wissen, Wörter können verletzen und scharf wie ein Schwert sein. Hier habe ich schon darüber geschrieben: Wenn Wörter krank machen Und genau das ist hier passiert. Ein wohlmeinendes Team hat sich daran gemacht, etwas zu schaffen, das aktiviert, motiviert und positiv stimmt. Was auf den ersten Blick auch so anmutet. Wer ist nicht gerne voll im Leben oder wer wäre es nicht gerne? 

"Voll im Leben" impliziert,  dass man alles kann. Eine Person, die voll im Leben steht, kann sich quasi aus einem Füllhorn von Möglichkeiten bedienen, muss mit den Konsequenzen klar kommen und bekommt auch volle Pulle Leben ab. 

Aber mit MS kann man nicht alles. Menschen mit MS haben vielerlei unterschiedliche Einschränkungen zu bewältigen. Angefangen bei Einschränkungen beim Gehen, Fatigue, Konzentrationsproblemen und Kognitionsschwierigkeiten, psychischen Problemen wie Depressionen, Schlaflosigkeit, limitierte Energie und vieles mehr. Die Summe der Symptome führt meistens dazu, dass nicht alle Menschen mit MS eben nicht voll im Leben sein können. Selbst wenn sie es wollten. Weil ihre Einschränkungen und Grenzen einfach zuviel sind, zu stark und zu überbordend als dass sie sich voll ins Leben wagen könnten. Sie kennen die Grenzen und wissen, wer übertreibt, erhält die Rechnung, die meist unangenehm ausfällt. 

Grenze erreicht! 

Damit erreichen wir die Grenze des Mottos, das in dem Fall betrachtet nur die einbezieht, die eben voll im Leben sein können. Die, die das nicht können, wegen der MS, bleiben hinten dran. Zurück. Alleine. Im Netz las ich einige Kommentare von Menschen, die klar formulierten, dass voll im Leben für sie nicht zutrifft. Es sind die, die nicht voll im Leben sein können, weil die MS limitiert. Und somit limitiert auch das Motto. 

In Zeiten, in denen soviel darüber diskutiert wird, dass man Vorurteile und Missverständnisse ausräumen muss und die Menschen viel mehr über die Erkrankung MS wissen müssen, um zu verstehen warum jemand mit MS so handelt wie er handelt, ist das schlicht nicht akzeptabel. Gerade zum Welt MS Tag braucht es ein Thema, ein Motto, das alle einschließt, völlig egal ob jemand mit dem Rollator geht, im Rolli sitzt oder ob der Tag ein Scheißtag ist, weil die Kraft fehlt. Und egal ob jemand wie eine Rakete durchs Leben eilt und alles mitnimmt weil es geht oder ob jemand stolz auf sich ist, weil er es geschafft hat sein Bett zu machen. 

Motto = Raum für alle! 

Ein Motto muss allen den Raum verschaffen, sich im Motto zu bewegen, sich eingeschlossen zu fühlen. Es darf nicht ausgrenzen, soll nicht hyperaktiv voll im Leben daherkommen um auch das Außenbild einer Erkrankung, quasi die Reputation nicht zu beschädigen oder in eine falsche Richtung zu lenken. 

Voll im Leben heißt für viele, eher ignorante Menschen auch: die können das, die mit MS laufen gut und wenn er oder sie sagt, sie sei erschöpft, sind wir es auch. Was solls, ein bisschen müde sind wir alle. Was uns zu #butyoudontlooksick bringt und dem Umstand, dass Vorurteile damit nicht ausgeräumt werden. Im Gegenteil, sie könnten im schlimmsten Fall befeuert werden und das hilft echt voll. Nicht. 

Ist ein Motto Definitionssache? 

Man könnte natürlich noch anbringen, dass das Motto ja von jedem Menschen mit MS selbst für sich definiert werden kann. Aber fragt irgendwer danach wie ich das Thema für mich definiere? Oder wie die anderen da draußen das Thema für sich definieren? Oder wie sie es gerne definieren würden, wenn sie könnten? Nein. Das Thema steht und die Aufnahme ist super positiv. Egal ob es für alle passt oder nicht. 

Aber so geht das nicht. Alle oder keiner!

Man muss dieser vielfältigen, mal bunten und mal traurigen Gruppe von 252.000 Menschen in Deutschland mit einem Motto gerecht werden. Klar ist das eine Herausforderung. 

Aber wir müssen uns doch fragen, wieviel Nutzen wir mit einem Motto erlangen wollen? Oder wie der Neudeutsche sagt; wieviel awareness wir brauchen, um MS endlich in der Gesellschaft ankommen zu lassen. 

Weniger Geschlackert, mehr knackige Aussage! 

Es ist die Frage nach der gezielten Aufmerksamkeit, die nötig ist, dass die Menschen MS besser verstehen. "Voll im Leben" kommt wenig aussagekräftig und dennoch unendlich positiv um die Ecke geschlackert und hat nur wenig Biss. Es sagt nichts darüber aus, was es sagen soll oder könnte. Und das ist bei einer Community wie der rund um MS schade. Diese Menschen sind aktiv, da und sie haben etwas zu sagen. Und dafür muss ein Motto stehen. 

Deine Community du kennen sollst! 

Diese Gemeinschaft ist eine tiefgründige, oft nachdenkliche aber superschlaue. Das weiß man, wenn man sich eingehend mit ihr beschäftigt, was man ja ohnehin tun sollte, wenn man einen guten Job machen will. Denn alles, was man für eine bestimmte Gruppe tut, braucht Wissen über die Gruppe und zwar fundiert. Es reicht nicht, ein bisschen Social Media zu scrollen oder einige Statistiken zu lesen, in dem Fall brauchst den direkten Zugang, Kontakt und das nicht nur zu denen, die auffallen, sondern auch zu denen, die jetzt nicht unbedingt den superheldenhaften und glamourösen Social Media Auftritt haben und eher leise sind. Die, die keine Rampenschweine sind, sondern die im Stillen agieren. Die braucht es auch. Damit die Sache in Balance ist. Weil damit auch Zwischentöne aufgefangen werden, die oft so leise sie sein mögen, unendlich wichtig sind. 

Das mit der jährlichen Kritik am Motto

Ehrlich, ich habe in den letzten Jahren immer kritisiert und hatte mir vorgenommen, es in diesem Jahr nicht zu tun, aber bei einer derartigen Steilvorlage muss ich ja schier.

Ich hegte die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird und ich finde es schade, dass dem wieder nicht so ist. Weil mich die zahlreichen Kommentare über dieses Motto traurig machen, weil ein Teil dieser Community durchaus zeigt, dass sie sich nicht wahrgenommen fühlt, in Teilen nicht integriert scheint und dass sie eigentlich etwas mehr Sorgfalt verdient hätte. Denn die Vorurteile in Sachen MS sind bis heute haarsträubend. 

Was könnte besser sein - ein wenig Konstruktivität

Ich habe lange drüber nachgedacht, was man hätte besser machen sollen oder können und muss zugeben, einfach ist es nicht. Das war mir aber vorher schon klar. Und als ich dem Motto noch einmal hinterher recherchiert habe, war das das was ich empfohlen hätte. Da war ein „mit MS“ angehängt und bringt man beides zusammen, sieht die Welt schon anders aus.  Es wäre für viele klarer gewesen, dass man über eine ernste Erkrankung spricht. Da wäre ein klares Signal gewesen und ich vermute, wesentlich weniger Aufregung. Aber der Appendix wurde dann aber, bedauernswerterweise, großzügig weggelassen. 

Was ein kleiner Zusatz ausmacht! 

"mit MS"  war der Zusatz und der war in der Tat da, wurde aber nicht ausreichend kommuniziert. 


Das zeigt uns die gerade (2.6.) geprüfte Instagramstatistik. 

Auf Twitter war das auch nicht besser: 


Analysiert man aber #VollimLeben, war da echt viel los. Patientenorganisationen und Nutzer, auch Bundesbehörden haben das Ding fleißig genutzt. Meist mit motivierenden, recht fröhlichen Bildern und eher sehr positiv als mit den berühmten 1000 Gesichtern, die beileibe auch ziemlich fies, traurig, ärgerlich, depressiv und frustriert sein können. 

Was wir alle, und da nehme ich mich jetzt mal nicht aus, gezeigt haben, ist eine fröhlich lustige Community. Die Frage ist aber: Sind wir das?

Der kleine Zusatz "mit MS" war genau das, was wir hätten nutzen müssen, hätte man uns nicht nur "voll im Leben" als Motto angedacht, sondern einen Moment weiter kommuniziert und erklärt. Er war doch da. Hat nur keiner der Macher des Mottos gesagt und das ist der Knackpunkt. 

Hätte man ihn genutzt, hätten Nutzer unter Nutzung des gesunden Menschenverstandes wahrscheinlich verstehen können, dass voll im Leben nicht immer voll im Leben bedeuten muss oder kann. Weil eben mit MS. Dieser kleine Appendix der ja da war, aber in der Kommunikationsstrategie und im # total untergegangen ist, hätte für mehr Raum gesorgt, für die, die sich jetzt hinten angestellt und ausgegrenzt fühlten. Und das an einem Tag, der ihnen gewidmet ist. Alle diese Menschen hätten sich eingebunden fühlen können, wertgeschätzt und angenommen. In Zeiten, in denen man über Inklusion spricht, ein wichtiger Punkt oder? 

So gesehen war das Motto bedingt ok. Für die mit MS, die "voll im Leben" stehen sicher. Für die "mit MS" und vielen Einschränkungen eben nicht. 

Ein Fehler, der aber nicht passieren darf. Man kann auch sagen, dass das Motto ohne Zusatz den Zweck erfüllt hat. Es hat oberflächlich laut grinsend sicherlich für Aufmerksamkeit gesorgt, aber den Kern der Sache, die Erkrankung und Aufklärung darüber irgendwie hinten über kippen lassen. Was schade ist, denn die Wirkung für mehr Verständnis kann mit so etwas eher nicht zustande kommen. 

5 Zeichen mehr für viel mehr Klarheit! 

#VollimLebenmitMS wären 5 Zeichen mehr gewesen. Aber 5 Zeichen, die Klarheit geschaffen hätten und die hätte es gebraucht. Um den Welt MS Tag zu einem Tag für alle zu machen, die mit der Erkrankung leben. Ein Motto muss, so finde ich, einer Gruppe, einem Thema gerecht werden. Im Fall der MS muss es eigentlich sagen, dass man mit MS ganz gut leben kann, sich aber einrichten muss, für sich einstehen soll und dass man mit Grenzen rechnen muss, die man heute noch gar nicht einkalkuliert weil MS ein kleines, spontanes Biest ist. 

Ich weiß sehr genau, dass Kommunikation schwierig ist, besonders im Gesundheitsbereich. Ein Motto zu finden kann eine ziemliche Herausforderung sein, es verlangt viel Sorgfalt und Kenntnisse der Gruppe, über die man spricht und für die man es entwickelt. Bleibt man oberflächlich erreicht man zu wenig, nichts oder im schlimmsten Fall, das Gegenteil. Und damit ist keinem geholfen. 

Weder denen, die etwas über eine Erkrankung erfahren sollten noch denen, die damit leben. Und damit hat man das Thema dann wohl irgendwie verfehlt. 

Bis nächstes Jahr! Und hoffentlich einem Motto, das Menschen mit MS mitnimmt, einbindet und stolz macht! Das sollte doch zu schaffen sein. 

Übrigens, wir freuen uns hier über Kommentare und Vorschläge, die wir gerne weiterreichen an die Macher des Welt MS Tages! 

Birgit 


Text: Birgit Bauer - Manufaktur für Antworten UG 

Bild: Pixabay.com 

Screenshots: Birgit Bauer