27 September 2018

Das mit dem Fachkräftemangel und das Patientenstigma.

Der Begriff "Fachkräftemangel" ist in aller Munde. Und nicht so einfach zu bewältigen. Hört man. Dass zum Beispiel Senioren eine gute Ressource sein können, erklärte mir neulich eine sehr aktive ältere Dame die mit über 70 noch immer mächtig Power ins Familienunternehmen steckt und richtig Spaß hat. Sie sagte mir, dass wir nicht reden sollten, sondern machen. "Von dem ewigen Diskutieren wird man müde", erklärte sie und gab zu, eine Macherin zu sein. Sie sagte mir auch, dass die Power nicht zu unterschätzen sei, denn der Wissensschatz und auch die Erfahrungen, die sich in einem Leben so ansammeln, sind ein wertvolles Gut.

Erinnert mich ein bisschen an "The Intern" einen Film, in dem ein Senior sich in einem eCommerce Start-up als Praktikant bewirbt, die Stelle bekommt und erst einmal mit den technischen Entwicklungen zu kämpfen hat, aber auch seine Erfahrung ausspielt und einbringt.

Zugegeben, Fachkräftemangel ist ein Problem. Ohne Experten wird es für Unternehmen schwierig, gute Produkte oder Dienstleistungen an ihre Kunden zu liefern. Das ist klar. Und deshalb diskutieren wir das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln, um Lösungen zu finden.

Ich habe da noch einen Vorschlag: Menschen, die mit Erkrankungen leben. Sie werden oft genug übersehen. Obwohl viele von ihnen Fachkräfte sind.


Deshalb will ich hier heute eine Lücke füllen. Die Gruppe, über die ich hier spreche, kennt man langläufig auch als "Patienten". Ehrlich gesagt, ich mag diesen Ausdruck nicht, weil er stigmatisiert und an sich schon krank macht. Also bleiben wir bei Menschen, die mit Erkrankungen leben. So wie ich mit MS.

In der Manufaktur befassen wir uns schon lange damit, was so ein "Patientenstigma" auslöst. Das Leben mit einer Erkrankung ist an sich schon nicht so einfach, fehlt aber das monatliche Einkommen oder hat man nur ein sehr geringes Einkommen, wird es schwierig. Kranksein kostet Geld.

Der Werdegang vom Mensch zu Patient ist oft einfacher als man denkt. Man geht als Mensch zum Arzt oder ins Krankenhaus und kommt als Patient wieder heraus. Mit einer Erkrankung, die entweder langfristig oder gar chronisch und nicht heilbar ist. So wie in meinem Fall mit Multipler Sklerose vor fast 14 Jahren.

Der wichtigste Aspekt, dem man sich schnell in dieser Situation widmet, ist tatsächlich das Geld. Und viele Betroffene beschließen erst einmal, die Erkrankung zu verschweigen. Das kann lange ganz gut funktionieren. Bis ein Ernstfall eintritt. Dann wirds schwierig.  Es wird bekannt, was sich im Hintergrund tut, dass da etwas ist, was nicht wieder in Ordnung kommen könnte. Und dann passiert es: Nicht selten heißt "Patient sein" auch, dass einem eben nicht mehr soviel zugetraut wird. Der Mensch wird aufgrund seiner Erkrankung zum Risiko. Er wird reduziert. Auf das was er der Meinung anderer nach nicht mehr kann. Was er kann? Fällt hinten über. Oft genug habe ich in den letzten Jahren erzählt bekommen, dass die Kündigung kam, noch während jemand im Krankenhaus lag.

Mit einer chronischen Erkrankung zu leben bedeutet nicht selten auch, an den Rand gedrängt zu leben. Sozial isoliert, weil kaum Geld da ist und weit entfernt von einer guten Arbeit, die zufrieden macht und genügend Geld einbringt.
Dabei ist es doch so: Nur weil wir Patienten sind, heißt das nicht, dass wir nichts gelernt haben oder dass wir keine Fachkräfte wären. Unser Leben beschränkt sich nicht auf die Erkrankung. Wir leben damit. Das ist ein Unterschied.



Viele Menschen, die täglich mit einer chronischen oder langfristigen Erkrankung leben, möchten arbeiten. Sie können es sogar und sind genauso gut und zuverlässig wie jeder andere auch. Hier zu sagen, ja aber er oder sie könnte ja einen Krankheitsschub oder einen Ernstfall haben ist überflüssig.
Diese Menschen gehören zu denen, die sehr genau wissen, was sie tun.

Was nötig ist ist eine Chance. Viele von uns sind das, was gesucht wird: Fachkraft. Und das ist die Chance für Unternehmen. Neue Horizonte, neue Dinge zu lernen, aber alles Dinge, die nicht unmöglich sind. Perspektiven können sich verändern und so ist es auch möglich, neue Aspekte zu bekommen.

Da draußen ist ein riesiger Pool von Fachkräften, die keine Chance erhalten, obwohl es vielleicht nur kleine Bedürfnisse sind, die man beachten muss. Bei MS zum Beispiel eine Pause mehr, eine Rampe für den Rolli oder im Sommer ein kühles Büro oder eine Klimaanlage. Alles Dinge, die machbar sind. Wir reden über Fachkräfte, die erfahren sind, die gerne Neues lernen und sich entwickeln möchten. Menschen, die mehr als motiviert sind, gute Jobs zu machen und ihre Aufgaben zu erfüllen. Und sie haben eine Chance verdient.

Dass die Fachkräftefrage nicht nur an den Unternehmen liegt, ist klar. Es liegt an allen zuständigen und bei der Jobsuchenden beteiligten Parteien, wahrzunehmen dass Menschen mit Erkrankungen durchaus eine gute Quelle in Sachen Arbeitskraft sind. Der Grund dafür ist nicht selten ein Mangel an Information über die Erkrankungen. Chronisch Kranke wollen arbeiten. Ein Job verschafft nicht nur das nötige Budget für das tägliche Leben, sondern sorgt für Selbstbewusstsein, die Möglichkeit am sozialen Leben teilzunehmen und hat positiven Einfluss auf das mentale Wohlbefinden. Wir reden also über Lebensqualität und deren Erhalt.

Wenn ich eines in 13 Jahren mit MS gelernt habe, dann dass das Kräfte schlummern, die es wert sind, entdeckt, gefördert und belohnt zu werden. Und das nicht nur bei gesunden Menschen.

Fachkräftemangel ist ein Bereich, mit dem wir uns beschäftigen müssen, da stimme ich zu. Aber bitte mit allen Beteiligten. Und dazu gehören auch Menschen, die mit Erkrankungen leben. Nicht nur Senioren können sich in neue Gebiete einarbeiten und sich damit auseinandersetzen.

Menschen, die mit chronischen Erkrankungen leben, können das auch. Wetten?







Text: Birgit Bauer für Manufaktur für Antworten UG
Bilder: pixabay.com