".... weiterer ätzender Tag, ich habe keine Moral mehr ... guten Morgen"
"unreflektiertes Behaupten von Dingen, die nicht im Kontext zu etwas stehen auf aggressive Art"
"Impfgegner sind per se rechts ... "
"Wer was anderes sagt, z.B. Positives (wie ich es tat), soll einfach das Maul halten!"
Sinngemäße Wiedergaben von Dingen, die ich gerade haufenweise lese. Und ehrlich: sowas bringt mich täglich, am Morgen, an den Rande meiner Lust auf Social Media. Ich will hier bei weitem kein düsteres Bild zeichnen, aber die Aggressivität, die jemand bereits vor dem Kaffee in seine Tweets packt, nur um Frust loszuwerden, erschüttert mich immer wieder.
Das bringt selbst mich, die Social Media und Twitter wirklich gerne mag und lange dabei ist, dazu, mich von Zeit und Zeit auszuklinken und auf Abstand zu gehen.
Als Mensch, der in Social Media nicht nur zum Vergnügen, sondern auch im Job unterwegs ist, finde ich das oft hart. Belastend. Da kotzen mir Menschen ihr Elend in 280 Zeichen ungefragt vor die Füße. 280 Zeichen negative Emotionen. Teilweise voller Hass, Frust, Wut und Pessimismus. 280 Zeichen die auf andere wirken. Negativ. Auf die Nutzer, die vielleicht gut gelaunt sind, die sich trotzdem darauf verstehen, das Beste aus einer Situation zu machen und die versuchen, andere auf den eher positiven Trip zu bringen und auf die, die ohnehin schon im tiefen Loch sitzen und das auch äußern. So wie ich, die weiß, wie es ist, wie sich Dunkelheit anfühlt und wie wichtig es ist, dass da einer die Hand ausstreckt und hilft. Auch und gerade auf Twitter. Vielleicht kommt es daher, weil ich mich viel in den Communities bewege, in denen viele Menschen mit Erkrankungen unterwegs sind, Menschen, die seit Monaten eingeschlossen, isoliert leben und denen langsam aber sicher die Kraft ausgeht.
Es ist mir klar, dass nicht jeder immer gut drauf ist oder positiv wirken kann, muss man auch nicht. Die Zeiten sind nicht einfach und jeder von uns braucht eine Menge Resilienz und gute Nerven. Dass man die nicht immer hat oder aufbringen kann, ist mir klar. Aber unreflektiert den über Nacht aufgestauten Frust mehrmals täglich in 280 Zeichen ausdrücken und damit auch ein Stück weit andere, die vielleicht noch ein zartes Pflänzchen Optimismus hegen wieder nach unten zu ziehen ist auch keine Strategie.
"Optimistisch zu sein bedeutet nicht, die negativen Seiten des Lebens zu ignorieren. Optimismus ist viel eher die Fähigkeit von Menschen, auch das Positive zu sehen und anzuerkennen", schreibt Prof. Dr. med. Gustav Lobos in seinem Buch "Die gestresste Seele".
Mir ist sehr wohl klar, dass das eine Herausforderung für uns alle ist, das mit dem Optimismus und, dass das Coronavirus Menschenleben fordert und nicht zu knapp, ist mir mehr als bewusst.
Die Lage ist ernst, ohne Frage. Dass man mir krude Theorien ans Herz legt, mir fiese Videos ohne Quellenangabe als "verlässliche" Informationen empfiehlt und mir zeigen möchte, dass man sich mit mir verschwören will, weil ich mit MS lebe und mir per schmierigem Flugblatt im Briefkasten einreden möchte, dass ich gar keine Pandemie habe, solange keiner meiner Nächsten nicht mit Corona infiziert ist, ist verletzend, verwirrend und zudem gruselig. Vor allem wenn es von denen kommt, die man als vernünftig eingeschätzt hat und mit denen man über lange Zeit einen guten Kontakt pflegte.
Zugegeben, das frustriert mich. Es frustriert mich auch, dass ich gerade keinen Film im Kino sehen kann, dass Restaurants und mein Frisör geschlossen sind und ja auch ich habe Anfälle von Lagerkoller. Aber diesen Frust ungefiltert und grob in die Gegend zu posaunen?
Das bin ich nicht. Weil es nichts bringt, außer mehr Frust und den kann gerade keiner brauchen. Mir ist die Verantwortung die ein Auftritt in Social Media mit sich bringt sehr bewusst. In dem Fall stelle ich mir schon die Frage, ob ich solche, die ohnehin seelisch extrem kämpfen, noch weiter ins Dunkel stürzen will oder ob ich mir den Frust einfach mal verkneife und ihn anders verarbeiten kann, zum Beispiel die aufgestaute Energie in Ausmisten, Sport oder derlei stecke und damit loswerde?
In den vergangenen Monaten sah ich viele, mir lieb gewordene Kontakte zum Beispiel aus Twitter verschwinden, sie ertrugen genau dieses Elend in 280 Zeichen nicht mehr. Es lauerte an jeder Ecke wie ein dunkler Schatten und zog sie immer weiter in die Tiefe. Bis sie nicht mehr konnten und gingen. Wertvolle Stimmen und Gedanken gingen verloren.
Ich will nicht sagen, dass wir immer nur optimistisch sein müssen. Das wäre seltsam. Aber müssen wir unser Elend immer in 280 Zeichen unreflektiert von uns geben? Unachtsam sein und damit auch vielleicht sogar gefährden? Twitter war und ist immer deutlicher, klarer und provokativer als andere Netzwerke. Aber es ist generell keine Auskotzstelle. Es ist Austausch, auch mal sagen können, dass es einem schlecht geht und dass der Tag nicht gut läuft, das darf man alles. Aber eben nicht ausschließlich. Die Mischung machts doch oder?
Und was ist dabei, einfach mal mehr zu lächeln, ein bisschen Positives zwischen die dunkle Seite der Tweets zu packen und dafür zu sorgen, dass die Balance erhalten bleibt? Wir reden in den letzten Monaten immer mehr und laut über Solidarität und Fürsorge, ist das in Social Media nicht drin? Ich glaube schon. Wie wäre es, den Frust einfach mal aussen vor zu lassen und damit Nutzern, die verzweifelt darüber nachdenken, sich komplett zu isolieren und in der Dunkelheit zu verharren, weil sie die Frust in 280 Zeichen nicht mehr aushalten, ein wenig Verständnis entgegen zu bringen und ihnen so zu helfen?
Nachdenklich,
Birgit
Bild: Pixabay
Text: Birgit Bauer, Manufaktur für Antworten UG